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Schlagworte: Zielgruppen und Märkte

New Urban Tourism – Besucher abseits touristischer Hotspots

Von Sybille Mederle, 2. Dezember 2021

© iStock.com/JackF

Besucher von großstädtischen Reisezielen verlassen zunehmend klassische Touristenzonen und verlagern ihre Besuche in Wohnviertel – ein Phänomen, das als New Urban Tourism oder als „off-the-beatentrack“, also als Tourismus „abseits ausgetretener Pfade“ (Maitland, Newman, 2014), bezeichnet wird. Insbesondere jüngere Zielgruppen verbringen ihre Aufenthalte in größeren Städten abseits der sogenannten Tourist Bubble. Die Viertel, die dann besonders häufig frequentiert werden, sind klassischerweise von Wandlungs- und Gentrifizierungsprozessen geprägt. Insbesondere multifunktionale und polyzentrische Städte (Maitland, Newman, 2014) bieten Stadtnutzern abseits klassischer Touristenattraktionen die Möglichkeit, sogenannte „new tourist places“ zu produzieren.

Grauer Beherbergungsmarkt zieht Touristen in Wohnviertel

Plattformen wie Airbnb haben dazu beigetragen und bewirken, dass sich diese Entwicklung auch auf das Übernachtungssegment ausgeweitet und zu einem verlängerten Besucheraufenthalt in urbanen Nachbarschaften geführt hat. Das Angebot zahlreicher Airbnbs zahlt auf die Motivation des New Urban Tourism ein, da die Unterkünfte oftmals abseits touristischer Hotspots liegen. In Bayern wurde anhand einer Untersuchung herausgearbeitet, welche Auswirkungen das Angebot von Airbnb auf die Bewohner Münchens hat – insbesondere, inwieweit Einheimische das Phänomen wahrnehmen und ob sie sich gestört fühlen. In München, wie auch in anderen Großstädten ist das Angebot des „grauen Beherbergungsmarktes“ nicht mehr nur rund um die touristischen Hotspots selbst angesiedelt, sondern auch in den Wohngebieten. Die Mehrheit der Befragten in München gab an, bereits von Airbnb gehört zu haben. Von diesen wiederum fühlt sich der Großteil nicht vom Angebot der Airbnbs gestört, 19 Prozent gaben jedoch an, sich gestört beziehungsweise etwas gestört zu fühlen. Am häufigsten von Einheimischen genannt wurde dabei der Mangel an verfügbarem Wohnraum, die Mietpreise, das Problem ständig wechselnder Nachbarschaft sowie das Verhalten der Airbnb-Nutzer.

New Urban Tourists auf der Suche nach Alltäglichem

Das Verschwimmen der Grenze zwischen Tourismus und Freizeitraum von Einheimischen sowie das Eintauchen in das Umfeld, das auch von Bewohnern der Stadt besucht wird, ist ein weiteres relevantes Motiv für New Urban Tourists. Diese Erlebnisdimension spielt im New Urban Tourism eine größere Rolle als im klassischen Städtetourismus.

Auch der Wunsch nach Begegnungen mit anderen Personen ist ein Merkmal des New Urban Tourism. Es ist nicht entscheidend, ob diese Begegnungen auch tatsächlich stattfinden, lediglich die Vorstellung möglicher Treffen mit Einheimischen reicht aus, um Reisende zu motivieren, sich auf Aktivitäten einzulassen oder in den urbanen Alltagsraum Einheimischer einzutauchen, durch die das gewünschte Zusammensein mit anderen suggeriert wird. Potenzialität ist bedeutend für viele Phänomene, die dem New Urban Tourism zugeordnet werden können. Welche Orte als relevant und sehenswert definiert werden, entscheidet sich weniger durch klassische Informationsquellen wie Reiseführer, sondern durch Kommunikation mit Freunden oder Bekannten als auch über digitale Medien.

Die touristische Suche nach Alltäglichem ist nichts Neues – jedoch nimmt die Intensität, eine Stadt auf diese Art zu besuchen, zu und zugleich nutzen auch Einheimische die Städte, in denen sie leben, touristisch. Denn die Nutzung eines Raumes durch Touristen ähnelt der Nutzung desselben Raumes, den Bewohner einer Stadt nutzen, wenn sie in ihrer Freizeit an ihrem Heimatort unterwegs sind.

Nutzung und Wandel urbaner Räume

Das Deutsche Wirtschaftswissenschaftliche Institut für Fremdenverkehr beschreibt in Zusammenarbeit mit der Humboldt Innovation GmbH (dwif consulting GmbH, Humboldt-Innovation GmbH, 2017) die Nutzung und den Wandel von urbanen Räumen am Beispiel der Stadt Berlin entlang von drei Phasen. Dabei wird die erste Phase als „lokales Pioniering“ beschrieben, in der die Bewohner einer Stadt selbst neue Orte entdecken. Oft sind es direkte Anwohner der jeweiligen Viertel, die auf der Suche nach Möglichkeiten zur Freizeitnutzung in ihrem nahen Wohnumfeld neue Orte entdecken und diese durch Verweilen zu einem attraktiven Ort machen. Oftmals stehen dabei weniger erschlossene und ökonomisierte Orte im Mittelpunkt.

Bekanntheit erlangen diese Orte in dieser Phase über Beobachtung, Nachahmung oder Empfehlungen von Freunden oder Bekannten. Die Besonderheit des Ortes führt zu einer zunehmenden Nutzung von Tagesausflüglern aus dem Stadtgebiet selbst.

Die zunehmende Frequentierung durch Einheimische führt zu einer Attraktivitätssteigerung dieser Orte für Besucher, die sich auf der Suche nach authentischen Erlebnissen befinden. So geht die erste Phase in eine zweite Phase der „Internationalisierung“ über, in der sich New Urban Tourists unter Einheimische mischen und die Orte „prosumiert“, also gleichzeitig konsumiert, produziert und verändert werden. In dieser Phase steigt auch die Kommunikation dieser Orte über soziale Medien. Intensiviert sich die Nutzung und das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure, beginnen sich neue Gewerbestrukturen mit Spezifizierung auf bestimmte touristische Zielgruppen zu formieren.

Im weiteren Verlauf erfolgt die Phase der „Etablierung/Sättigung“, in der diese „Geheimtipps“ als klassische Tourismusorte wahrgenommen und konsumiert werden. Im Gegensatz zu den New Urban Tourists siedeln sich an diesen Plätzen nun vermehrt „klassische“ Touristen an, die sich an leicht zugänglichen, vertrauenswürdigen, sicheren und sauberen Orten orientieren und die eine entsprechende Infrastruktur aufweisen. „Klassische Touristen“ konsumieren lediglich an diesen Orten und formen diese nicht weiter oder verändern sie. Der Wandel, den touristische Orte in dieser Phase vollziehen, macht sich auch in dem Anstieg der Nennungen in Reiseführern oder der Integration in Stadtführungen bemerkbar. Durch die hohe Besucherzahl geht der Status als „Geheimtipp“ verloren, die Orte gelten zunehmend als touristifiziert. Dies führt häufig dazu, dass Angebote touristischer Leistungen zunehmen, sich vereinheitlichen und sich möglicherweise ein Überangebot einstellt. Zu viel touristisches Angebot kann verschiedene Auswirkungen haben. Zum einem kann es zu einer sinkenden Tourismusakzeptanz bei den Einheimischen führen, aber auch zu einem Attraktivitätsverlust für New Urban Tourists, die auf der Suche nach authentischen Erfahrungen sind. Als Folge der sich veränderten Angebotsstruktur ändern sich oft auch Angebote des alltäglichen Bedarfs für Einheimische und die gesamte Struktur eines Viertels.

Durch diesen Prozess verliert die differenzierte Betrachtungsweise von Touristen und Einheimischen oder auch von Arbeit und Freizeit an Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff des „Post-tourism“, der „Dekonstruktion touristischer Rollenvorstellungen“ genannt, die sinnbildlich durch den New Urban Tourism vertreten werden.

Bereits in der Phase der „Etablierung/Sättigung“ gilt es, den Tourismus gezielt zu steuern, da sonst die Gefahr einer Standardisierung (dwif consulting GmbH, Humboldt-Innovation GmbH, 2017) droht und übernutzte Orte lediglich für eine vergleichsweise kleine Zielgruppe von Interesse sind. Insbesondere vor dem Hintergrund wachsender Städte und immer weniger verfügbarem urbanen Raum sollte diesem Szenario seitens der Tourismusentwicklung frühestmöglich entgegengewirkt werden.

Tourismussteuerung und Vermeidung von Konflikten

Die Tourismuskonzeption in Berlin (dwif consulting GmbH, Humboldt-Innovation GmbH, 2017) reagiert auf den New Urban Tourism durch gezielte und ortsbezogene Tourismussteuerung, um so einerseits Überlastungseffekte in den einzelnen Vierteln zu adressieren und andererseits neue Potenziale durch die Entzerrung von Besucherströmen zu schaffen. Dabei könnte eine gezielte und ortsbezogene Tourismussteuerung in Berlin beispielsweise die Entwicklung eines räumlich differenzierten Leitbildes des Tourismus, die Identifizierung der Bedarfe einzelner Bezirke sowie der Einsatz von Tourismusbeauftragten je nach Ausgangssituation und Zielsetzung der Bezirke beinhalten. Zudem könnte die Tourismussteuerung über eine klare Verteilung der Aufgaben zwischen allen Bezirken und ihren einzelnen Kiezen verbindlich kommuniziert und erarbeitete Tourismuskonzepte zwischen Land und Bezirken abgestimmt und aktualisiert werden.

Das Konfliktpotenzial des New Urban Tourism äußert sich auf unterschiedliche Art und Weise. So wird über tourismuskritische Graffitis, Aufkleber oder die Besetzung von Ferienwohnungen auf lokale Probleme aufmerksam gemacht, aber auch über organisierte Initiativen gegen tourismuspolitische Maßnahmen. Die kritische Betrachtung dieser Entwicklungen und Prozesse vernachlässigt jedoch häufig auch den Umstand, dass eben auch weite Teile der lokalen Bevölkerung vergleichbaren Freizeitaktivitäten nachgehen. Auch Einheimische reisen von einem Stadtteil in den nächsten für einen Besuch einer angesagten Location und produzieren ebenfalls Lärm und Müll. Daher ist es offensichtlich, dass auch das Verhalten der Einheimischen zum Wandel von urbanen Räumen beiträgt. Den Konflikt birgt nicht die gemeinsame Produktion des Urbanen, sondern das heterogene Zusammenspiel unterschiedlichster Akteure und Interessen.

Fazit

Veränderungen im Konsum von Gütern und Orten, zunehmende und sich überschneidende Mobilität, die das städtische Leben kennzeichnen, stellen die gewohnte Art, zwischen Besuchern und anderen zu unterscheiden, infrage. Umso wichtiger ist es, diese Wechselwirkungen zu untersuchen, wenn es darum geht, wie Städte zu erstrebenswerten Orten zum Leben, Arbeiten und Besuchen werden (Maitland, Newman, 2014).

Um ein Verständnis für den New Urban Tourism zu entwickeln, gilt es seitens der Praxis zu verstehen, wie sich die Menschen einer Stadt bewegen – unabhängig davon, ob es Alteingesessene, Zugezogene oder Besucher sind. Auch gilt es zu hinterfragen, was die touristische Nutzung urbaner Räume für Nachbarschaften bedeutet und wie sie von Einheimischen wahrgenommen wird. Städte können nicht mehr nur als Destination betrachtet werden, die Besucher besuchen und Bewohner bewohnen, denn das sehr ähnliche Verhalten von New Urban Tourists und der von Einheimischen in ihrem quasitouristischen Freizeitverhalten führt eben dazu, dass diese getrennte Betrachtungsweise von Touristen und Einheimischen seine Bedeutung verliert. Für ein besseres Verständnis ist ein ganzheitliches Monitoring (dwif consulting GmbH, Humboldt-Innovation GmbH, 2017) unabdingbar. Dazu zählt neben der Vernetzung der unterschiedlichen Akteure und einer Nutzung der Daten auch die Erweiterung um zusätzliche Kennzahlen und innovativer Monitoringinstrumente für neue Themen und Trends wie beispielsweise des New Urban Tourism, für die bis heute nur wenige Daten verfügbar sind.

In der operativen Umsetzung könnte das für Städte die Erfassung von Besucherströmen bedeuten beispielsweise über WLAN-Hot-Spots, Apps oder Kooperationspartner sowie der Analyse des Nutzungsverhaltens touristischer Infrastruktur oder regelmäßige Akzeptanzuntersuchungen unter den Einheimischen und eben auch die Entwicklung neuer innovativer Instrumente, um mehr Erkenntnisse über den Tages- und Übernachtungstourismus zu gewinnen.

Letztendlich sollte es künftig das Ziel sein, derartige Verfahren und Prozesse zu institutionalisieren, um touristische Verhaltensweisen problemorientiert und räumlich differenziert zu erfassen und abzubilden. Demnach braucht es zukünftig eine neue Form der Tourismusentwicklung und auch neue Ansätze in der Forschung, um die Herausforderungen zu bewältigen (Pechlaner, 2021).

So stellt beispielsweise die Stadt Wien mit seiner neuen Strategie das Social Design in den Mittelpunkt. Die wesentlichen Fragen dabei lauten: Was kann der Gast für die Stadt tun und wie schafft man Begegnungen statt nur reiner Erlebnisse? Es sei jetzt an der Zeit, interdisziplinär zu agieren und Erkenntnisse beispielsweise aus der Geografie, Psychologie und den Wirtschaftswissenschaften miteinzubeziehen. Auch die Bürgerbeteiligung muss neu interpretiert, innovative Konzepte entwickelt und zeitgemäße Narrative gefunden werden.“Bürgerbeteiligung ist dann gut, wenn nicht fertige Konzepte den Bürgern präsentiert werden, sondern diese von Beginn an in die Erstellung dieser Konzepte eingebunden werden.“ (Pechlaner, 2021). In Findungsprozessen mit den Bürgern sollten die „großen“ Fragen gestellt werden: Welchen Gast wollen wir? Wo wollen wir uns als Standort hin entwickeln? Wie kann ein gutes Leben und Wirtschaften gelingen? Wie sieht die Zukunft der Arbeit aus? Welche Raumordnung ist die richtige?

Literaturverzeichnis

  • Maitland, R., Newman, P. (2014): World Tourism Cities. Developing Tourism Off the Beaten Track. Routledge: London und New York.
  • dwif consulting GmbH, Humboldt-Innovation GmbH  (2017): 12 mal Berlin erleben. Konzept für einen stadtverträglichen und nachhaltigen Berlin-Tourismus 2018+.

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